Die Auswirkungen von wissenschaftlicher Kritik in sozialen Medien und Reaktionsstrategien zur Aufklärung der Nutzer:innen
Randomisierte kontrollierte Studie
Die systematische Ablehnung von Wissenschaft, was oft als Wissenschaftsskepsis bezeichnet wird, ist ein großes gesellschaftliches Problem, das sowohl für den Einzelnen als auch die Gesellschaft schwerwiegende Folgen haben kann. In früheren Studien konnten insbesondere Religiosität, konservative politische Einstellungen und geringes Wissenschaftskenntnisse als Prädiktoren für Wissenschaftsskepsis identifiziert werden, aber auch die Medien, insbesondere soziale Medien, könnten hierbei eine wichtige Rolle spielen. Die Informationen in sozialen Medien sind aber nicht immer akkurat oder evidenzbasiert, was zur Fehlinformation und zur Entstehung und Verfestigung von Gerüchten und Mythen bei User:innen führen kann. Studien darüber, welche Wirkung ein wissenschaftskritischer Beitrag in sozialen Medien (z.B. in Form eines Videos) auf die Einstellungen der User:innen zu Wissenschaft hat, gibt es bis jetzt aber noch keine. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie Wissenschaftler:innen oder Vertreter:innen von wissenschaftlichen Institutionen mit falschen bzw. negativen Darstellungen von Wissenschaft in den (sozialen) Medien umgehen sollten.
Ziel dieser Untersuchung ist herauszufinden, welche Wirkung ein wissenschaftskritischer Beitrag in sozialen Medien auf die Einstellungen der User:innen zu Wissenschaft und Wissenschaftler:innen hat. Darüber hinaus soll untersucht werden, wie sich unterschiedliche Reaktionen in den Kommentaren solcher Beiträge auf deren Effekte auswirken und welche Variablen (nämlich individuelle Affinität zur Wissenschaft, Identifikation mit dem:r Blogger:in und Einstellung zur Demokratie) hierbei möglicherweise eine Rolle spielen.
Methode
Bei dieser Studie wird den ProbandInnen aller Interventionsgruppen ein Ausschnitt aus einem Video (Länge: ca. 4 Minuten) vorgeführt, in dem wissenschaftskritische Inhalte propagiert werden. Die Kontrollgruppe wird hingegen ein Video in gleicher Länge und ähnlichem Stil sehen, das keinen Bezug zu Wissenschaft und Forschung hat. In Interventionsgruppe #1 wird das wissenschaftskritische Video nicht weiter kommentiert. In den Interventionsgruppen 2-4 werden nach dem Video acht Kommentare von (fiktiven) User:innen eingeblendet, in denen das Video sowohl befürwortet als auch kritisiert wird. Während die kritischen Kommentare in der Interventionsgruppe #2 den Protagonisten direkt und persönlich angreifen, werden die kritischen Kommentare in der Interventionsgruppe #3 eher sachliche Argumente beinhalten, die die in dem Video vorgebrachte Kritik entkräften sollen. In der Interventionsgruppe #4 werden beide Typen von kritischen Kommentaren (persönlich angreifend UND sachlich) verwendet.
Ergebnisse
Es gab keine Unterschiede zwischen den fünf Versuchsbedingungen. In einer zusätzlichen explorativen Analyse, die alle vier wissenschaftskritischen Videogruppen zusammen mit der Kontrollgruppe verglich, fanden wir einen Rückgang des Interesses an wissenschaftlicher Forschung nach dem Betrachten des wissenschaftskritischen Videos und einen Anstieg des Vertrauens in Wissenschaftler, was wahrscheinlich auf Reaktanz zurückzuführen ist, da die Stichprobe überwiegend aus Personen mit hoher Affinität zu wissenschaftlicher Forschung bestand. Gegensätzliche Nutzerkommentare mit sachlichen Informationen wurden als am informativsten und glaubwürdigsten wahrgenommen, aber es gab keine Unterschiede bei anderen Ergebnisvariablen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein Video, in dem Wissenschaft abgelehnt wird, bei Teilnehmer:innen mit hoher Affinität zu wissenschaftlicher Forschung das Interesse an wissenschaftlicher Forschung verringern kann, unabhängig davon, wie andere Nutzer:innen das Video kommentierten.
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Steckbrief
Titel (deutsch): | Die Auswirkungen von wissenschaftlicher Kritik in sozialen Medien und Reaktionsstrategien zur Aufklärung der Nutzer:innen: Randomisierte kontrollierte Studie |
Titel (englisch): | The impact of science rejection in social media and response strategies to educate users: Randomized controlled trial |
Erhebungszeitraum: | 05/2024–06/2024 |
Stichprobe (effektiv): | 470 |
Stand der Informationen: | 03.10.2024 |
Weitere Informationen
https://public-health.meduniwien.ac.at/sozialmedizin
https://public-health.meduniwien.ac.at/unitsuicideresearch
www.suizidforschung.at
Kontakt
Benedikt Till, benedikt.till@meduniwien.ac.at