Hajek, Katharina; Kobilke, Lara & Krug, Maximilian

State Reaktanz messen

Explorative Entwicklung eines neuen mehrdimensionalen Fragebogens für die Kommunikationswissenschaft.

Die Theorie psychologischer Reaktanz erklärt, wie Freiheitseinschränkungen sich auf Widerstandsverhalten auswirken (Brehm, 1966). Die Theorie wird in unterschiedlichster Form in der Kommunikationswissenschaft (KW) angewandt (für einen Überblick siehe Ratcliff, 2019).

Obwohl es Instrumente gibt, die Reaktanz als Persönlichkeitseigenschaft (Trait Reactance) zuverlässig messen können (Hong, 1992), sind Messinstrumente von Reaktanz als situationaler Motivator für Widerstand (State Reactance) oft eindimensional in Bezug auf die thematische Anwendung (Hall et al., 2016), der abgebildeten Dimensionen (Merz, 1983) oder des behavioralen Ergebnisses von Reaktanz, das zumeist mit einem Boomerangeffekt übersetzt wird (Sprengholz et al., 2021).

Ein Ziel dieses interdisziplinären Forschungsprojektes war es daher, ein neues, flexibles und ganzheitliches Messinstrument für psychologische Reaktanz in Kommunikationsumgebungen zu entwickeln und eine erste Validierung des Instrumentes zu leisten.

Wir bauen dabei auf das Verständnis von Reaktanz als verschlungener Prozess aus Kognition und Affekt (Dillard & Shen, 2005), sowie Ansätze der Emotionspsychologie, die helfen die Brücke zwischen Kognition, Affekt und Handlungsmotivation zu schlagen (Smith & Ellsworth, 1985). Auf Basis eines Pretests haben wir so ein Instrument entwickelt, dass Reaktanz über die wahrgenommene Freiheitseinschränkung, die eingeschätzte Kontrolle, abwertende Kognitionen, den empfundenen Ärger sowie das Handlungsergebnis messen soll.

Methode

Die Erhebung folgt einem zwei-mal-zwei faktoriellem Online-Experiment. Im Rahmen eines Pretestes wurden zwei aus drei Themen ausgewählt (UV1: Thema Smartphonenutzung vs. Flugverhalten) und Formulierungen für geringe und hohe Reaktanzwahrscheinlichkeit generiert (UV2: Hohes vs. Geringes Reaktanzpotential). Jede:r Teilnehmer:in beantwortet Einstellungsfragen zum Thema Umweltschutz, Smartphone-Nutzung und Flugverhalten. Danach sieht jede:r Teilnehmer:in randomisiert einen von vier fiktiven Post (UV1xUV2) des Instagramprofils des öffentlich-rechtlichen Netzwerkes „funk“. Im Anschluss bekamen alle Teilnehmer:innen den gleichen für diese Studie neu entwickelten Reaktanz-Fragebogen sowie die Hong Trait Reaktanz-Skala (1994). Danach folgen bereits in mehreren Studien validierte Skalen zu themenbezogener, politischer Ambivalenz, politischer Toleranz, politischer Selbstwirksamkeit und themenbezogenem Wissen (als Quiz) sowie Fragen zur Soziodemografie.

Ergebnisse

Wir finden eine Fünf-Faktorenstruktur innerhalb unseres Instruments, die weitgehend mit unseren theoretischen Annahmen übereinstimmt. Der erste Faktor misst "wahrgenommene Einschränkung der Freiheit" und erfasst das Gefühl, eingeschränkt zu sein, empfundenen normativem Druck sowie die Wahrnehmung einer manipulativen Absicht seitens des Senders. Der zweite Faktor, "negative Kognitionen", zeigt einen kognitiven Widerstand gegenüber dem Beitrag, der sich in Skepsis, dem Versuch, Unstimmigkeiten zu finden oder Gegenargumentieren zeigt. Den dritten Faktor haben wir "emotionale Mobilisierung" genannt. Er zeigt die emotionalen und Verhaltensreaktionen der Personen auf den Beitrag, insbesondere Wut und verbundene Verhaltenswünsche. Der vierte Faktor heißt "wahrgenommene Selbstwirksamkeit und Kontrolle" und betont das Selbstvertrauen der Person, Einschränkungen der Freiheit zu verhindern und spiegelt den Glauben der Befragten an ihre eigene Handlungsfähigkeit und Fähigkeit zur unabhängigen Entscheidungsfindung wider. Der letzte Faktor erfasst "Widerspenstigkeit und (Nicht-)Befolgung" mit einer Mischung aus kognitivem und emotionalem Widerstand gegenüber dem Beitrag.

Diese Ergebnisse sind erste explorative Schritte in Richtung eines neuen Messinstruments. Die einzelnen Faktoren haben stark unterschiedliche Anzahlen an Items, die zum Teil statistisch nicht ausreichend zwischen den Dimensionen unterscheiden. Daher erarbeiten wir dazu aktuell eine Folgeerhebung, für die wir auf Basis unserer Ergebnisse aus dieser Studie ergänzende Items entwickelt haben. Wir setzen dazu zunächst eine Expert:innenbefragung um und gehen anschließend erneut ins Feld.

Schon jetzt zeigen unsere Ergebnisse allerdings Hinweise für das theoretische Verständnis von State-Reaktanz. Reaktanz-Verhalten ist eng mit der Bewältigung der Befragten in Bezug auf die Botschaft verknüpft. Einerseits neigen Personen mit überdurchschnittlichen negativen Kognitionen dazu, sich auf Gegenargumente zu konzentrieren. Andererseits sind Personen, die Ärger empfinden, eher dazu geneigt, (Nicht-)Befolgung als Verhaltensreaktion zu zeigen, indem sie sich an Aktionen beteiligen, die kritisiert oder verboten werden.

(Abschließende Anmerkung: Den ursprünglich ersten Teil der Studie, der sich mit dem Einfluss von State-Reaktanz auf den Effekt der regelmäßigen Konfrontation mit unterschiedlichen Meinungen (cross-cutting exposure, CCE) zur Verringerung der Polarisierung beitragen auseinandersetzen wollte, konnten wir mit dem erhobenen Sample nicht untersuchen, da in der CCE-Bedingung nicht genügend Teilnehmende vorhanden waren. Wir sind aktuell in der Planung einer Folgeerhebung.)

Literatur

Brehm, J. W. (1966). A theory of psychological reactance. Academic Press.

Dillard, J. P., & Shen, L. (2005). On the Nature of Reactance and its Role in Persuasive Health Communication. Communication Monographs, 72(2), 144–168. https://doi.org/10.1080/03637750500111815

Hall, M. G., Sheeran, P., Noar, S. M., Ribisl, K. M., Bach, L. E., & Brewer, N. T. (2016). Reactance to Health Warnings Scale: Development and Validation. Annals of Behavioral Medicine, 50(5), 736–750. https://doi.org/10.1007/s12160-016-9799-3

Hong, S.-M. (1992). Hong’s Psychological Reactance Scale: A Further Factor Analytic Validation. Psychological Reports, 70(2), 512–514. https://doi.org/10.2466/pr0.1992.70.2.512

Merz, J. (1983). Fragebogen zur Messung der psychologischen Reaktanz [A questionnaire for the measurement of psychological reactance]. Diagnostica , 29(1), 75–82.

Ratcliff, C. L. (2019). Characterizing Reactance in Communication Research: A Review of Conceptual and Operational Approaches. Communication Research , 009365021987212. https://doi.org/10.1177/0093650219872126

Smith, C. A., & Ellsworth, P. C. (1985). Patterns of cognitive appraisal in emotion. Journal of Personality and Social Psychology , 48(4), 813–838. https://doi.org/10.1037/0022-3514.48.4.813

Sprengholz, P., Betsch, C., & Böhm, R. (2021). Reactance revisited: Consequences of mandatory and scarce vaccination in the case of COVID‐19. Applied Psychology: Health and Well-Being, 13(4), 986–995. https://doi.org/10.1111/aphw.12285

Steckbrief

Titel (deutsch): State Reaktanz messen – Explorative Entwicklung eines neuen mehrdimensionalen Fragebogens für die Kommunikationswissenschaft.
Titel (englisch): Measuring State Reactance – Explorative Development of a new multidimensional Questionnaire for Communication Sciences.
Erhebungszeitraum: 04/2023
Stichprobe (effektiv): 462
Stand der Informationen: 11.09.2023

Weitere Informationen

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