Döring, Nicola

Fair enough? Wie gerecht geht es zu in unserem Sexualleben?

Menschen möchten gerecht behandelt werden und stören sich an Ungerechtigkeit. Das gilt für verschiedene Bereiche unseres Lebens: In der Ausbildung und im Beruf soll es fair zugehen, ebenso vor Gericht und auf dem Sportplatz. Im Rahmen der psychologischen Gerechtigkeitsforschung wurden viele dieser Aspekte schon intensiv erforscht (z. B. Gollwitzer et al., 2013).

Zu wenig untersucht wurde bislang jedoch, als wie gerecht Menschen ihr Sexualleben einschätzen. Konzepte wie „intime Gerechtigkeit“ (McClelland, 2010, 2014) oder „Orgasmus-Gerechtigkeit“ (Döring & Mohseni, 2022; Mahar et al., 2020) werden in der Fachliteratur und in öffentlichen Debatten in jüngster Zeit zwar verstärkt aufgegriffen, aktuelles Datenmaterial für Deutschland fehlt jedoch. Daher soll die vorliegende Studie folgende fünf Forschungsfragen beantworten:

F1: Als wie gerecht schätzen Menschen ihre persönlichen sexuellen Verhältnisse ein?

F2: Wie hängt das sexuelle Gerechtigkeitserleben mit dem allgemeinen Gerechtigkeitserleben zusammen?

F3: Wie hängt das sexuelle Gerechtigkeitserleben mit der sexuellen Zufriedenheit und Lebenszufriedenheit zusammen?

F4: Wie beeinflussen personale Faktoren (z. B. Gesundheitsstatus, Geschlecht, Alter) und Beziehungsfaktoren (z. B. Beziehungsstatus, Dauer der Singlephase bzw. Beziehungsdauer, Zusammenleben in einem Haushalt) das sexuelle Gerechtigkeitserleben?

F5: Wie beschreiben Menschen in ihren eigenen Worten erlebte sexuelle Ungerechtigkeit?

Methode

Studiendesign

Zur Klärung dieser Forschungsfragen wurden im Rahmen einer querschnittlichen Online-Befragung die interessierenden Variablen unter Teilnehmenden des SoSci-Panels in Deutschland erfasst.

Instrument

Der Fragebogen basiert überwiegend auf etablierten Items und Skalen aus der Gerechtigkeits-, Beziehungs- und Sexualforschung (z. B. Persönliche-Gerechte-Welt-Skala GWPER; Dalberg, 2002). Ein Teil der Items und Skalen wurde bereits in großen Surveys wie „Gesundheit und Sexualität in Deutschland“ GeSiD (https://gesid.eu/) und im „familiendemografischen Panel“ FReDA (https://www.freda-panel.de/) verwendet. Die psychometrischen Eigenschaften der Skalen wurden anhand der erfassten Daten erneut geprüft. Neben den geschlossenen Items wurde das Erleben sexueller Ungerechtigkeit auch offen erfragt.

Stichprobe

Eingeschlossen werden konnten alle Teilnehmenden des SoSci-Panels aus Deutschland, die informierte Einwilligung gaben und den Fragebogen weitgehend vollständig ausfüllten. Die Stichprobengröße wurde nicht limitiert, da ein größeres Sample mehr differenzierte Gruppenvergleiche erlaubt. Es ergab sich eine Bruttostichprobe von N = 2293 Personen, von denen n = 202 den Fragebogen gar nicht ausgefüllt, n = 326 den Fragebogen nicht beendet und n = 3 keine Einwilligung gegeben haben. Die Nettostichprobe betrug somit N = 1762, was einer Rücklaufquote von 77% im Sinne AAPOR Response Rate RR6 entspricht (AAPOR, 2016, S. 63). Die Nettostichprobe wurde um Personen qualitätsbereinigt, die den Fragebogen in 2 Minuten oder weniger ausgefüllt oder mehr als 6 Fragen unbeantwortet gelassen hatten. Die effektive Stichprobe hatte daraufhin einen Umfang von N = 1748. Sie wurde für weitere Analysen in Personen ohne aktuelle Paarbeziehung bzw. Singles (N1 = 469) und Personen mit aktueller Paarbeziehung (N2 = 1279) aufgeteilt.

Datenanalyse

Die Datenanalyse erfolgte mit deskriptiv- und inferenzstatistischen Verfahren, wobei v.a. Varianz- und Regressionsanalysen zum Einsatz kamen. Das Signifikanzniveau wurde auf 5% festgelegt. Das offene Item wurde inhaltsanalytisch ausgewertet.

Ergebnisse

Personen ohne aktuelle Paarbeziehung (Singles)

Es zeigte sich, dass die Mehrzahl der befragten Personen ohne aktuelle Paarbeziehung (Singles) ihre persönlichen sexuellen Verhältnisse als ungerecht oder allenfalls teilweise gerecht einschätzten (F1). Dabei bestand ein positiver Zusammenhang zwischen wahrgenommener sexueller Gerechtigkeit und allgemeinem Gerechtigkeitserleben (F2). Die wahrgenommene sexuelle Gerechtigkeit korrelierte positiv mit der sexuellen Zufriedenheit und mit der Lebenszufriedenheit (F3). Personale und Beziehungsfaktoren wie z. B. der Gesundheitszustand und die Dauer der Singlephase spielten beim sexuellen Gerechtigkeitserleben eine Rolle (F4). Wenn Singles in eigenen Worten zum Ausdruck brachten, unter welchen Umständen sie sich bei ihren Sexualkontakten sexuell ungerecht behandelt fühlen, dann führten sie unter anderem Egoismus und fehlende Wechselseitigkeit („ich mache all die Arbeit“, „es geht nur um seine Bedürfnisse“), Grenzverletzungen („es werden bestimmte Dinge gemacht, die vorher nicht abgesprochen wurden“) sowie auch sexuelle Zurückweisung („Sex ist ungerecht, wenn er nicht stattfindet“) an (F5).

Personen mit aktueller Paarbeziehung

Im Unterschied zu den Singles schätzte die Mehrzahl der befragten Personen mit aktueller Paarbeziehung ihre persönlichen sexuellen Verhältnisse eher als gerecht ein (F1). Dabei bestand ein positiver Zusammenhang zwischen wahrgenommener sexueller Gerechtigkeit und allgemeinem Gerechtigkeitserleben (F2). Die wahrgenommene sexuelle Gerechtigkeit korrelierte positiv mit der sexuellen Zufriedenheit und mit der Lebenszufriedenheit (F3). Personale und Beziehungsfaktoren wie z. B. der Gesundheitszustand und das Zusammenleben im selben Haushalt spielten beim sexuellen Gerechtigkeitserleben eine Rolle (F4). Wenn Personen mit aktueller Paarbeziehung in eigenen Worten ihr Erleben sexueller Ungerechtigkeit beschrieben, dann nannten sie teilweise ähnliche Probleme wie die Singles, etwa dass „auf meine Bedürfnisse nicht eingegangen wird“, „der Partner etwas tut, was ich nicht möchte“ oder „ich immer darum betteln muss“ (F5).

Fazit

Die Befunde bekräftigen, dass es sich bei der wahrgenommenen sexuellen Gerechtigkeit um ein Konzept handelt, das weitere Beachtung in der Sexual- und Beziehungsforschung sowie im Kontext der Gerechtigkeitsforschung verdient.

Literatur

AAPOR (American Association for Public Opinion Research) (2016). Standard Definitions. Final Dispositions of Case Codes and Outcome Rates for Surveys (9th edition). https://www.aapor.org/aapor_main/media/publications/standard-definitions20169theditionfinal.pdf

Dalbert, C. (2002). GWPER. Persönliche Gerechte-Welt-Skala [Verfahrensdokumentation aus PSYNDEX Tests-Nr. 9004488, Fragebogen Deutsch und Englisch]. In Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID) (Hrsg.), Elektronisches Testarchiv. Trier: ZPID. https://www.testarchiv.eu/de/test/9004488

Döring, N. & Mohseni, M.R. (2022). Der Gender Orgasm Gap. Ein kritischer Forschungsüberblick zu Geschlechter-Differenzen in der Orgasmus-Häufigkeit beim Heterosex. Zeitschrift für Sexualforschung 2(35), 73-87. https://doi.org/10.1055/a-1832-4771

Gollwitzer, M., Lotz, S., Schlösser, T., & Streicher, B. (Hrsg.) (2013). Soziale Gerechtigkeit. Was unsere Gesellschaft aus den Erkenntnissen der Gerechtigkeitspsychologie lernen kann. Hogrefe Verlag.

Mahar, E.A., Mintz, L.B., & Akers, B.A. (2020). Orgasm Equality: Scientific Findings and Societal Implications. Current Sexual Health Reports 12, 24-32. https://doi.org/10.1007/s11930-020-00237-9

McClelland S.I. (2014) Intimate Justice. In T. Teo (Ed.), Encyclopedia of Critical Psychology. Springer, New York, NY. https://doi.org/10.1007/978-1-4614-5583-7_522

McClelland, S.I. (2010). Intimate Justice: A Critical Analysis of Sexual Satisfaction. Social and Personality Psychology Compass 4(9), 663-680. https://doi.org/10.1111/j.1751-9004.2010.00293.x

Steckbrief

Titel (deutsch): Fair enough? Wie gerecht geht es zu in unserem Sexualleben?
Titel (englisch): Fair enough? Perceptions of justice in sexual relations
Erhebungszeitraum: 06/2022–07/2022
Stichprobe (effektiv): 1.748
Stand der Informationen: 06.08.2022

Publikationen

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Weitere Informationen

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