Theisen, Maximilian & Germar, Markus

Moralische Fragen im Alltag

Entwicklung der Moral Uncertainty Scale

Bei manchen Themen können wir ins Zweifeln kommen, was wir moralisch richtig finden. Denken Sie beispielsweise an Debatten zu Impfpflicht oder Sterbehilfe. Unsicherheit in solchen Fragen wird "moralische Unsicherheit" genannt (MacAskill, Bykvist, & Ord, 2020). Aus bisheriger Forschung wissen wir, dass es bei Themen, bei denen wir uns moralisch unsicher sind, unwahrscheinlicher ist, dass wir unseren moralischen Ansichten auch Taten folgen lassen (Alsaad, 2021). Gleichzeitig sorgt moralische Unsicherheit aber auch dafür, dass wir länger über ein Thema nachdenken (Vega et al., 2020) und auch andere Meinungen in unsere Überlegungen mit einbeziehen (Mata, 2019). Deshalb ist es wichtig, dass moralische Unsicherheit in psychologischer Forschung untersucht wird.

Das Ziel unserer Untersuchungen ist es, die verschiedenen Aspekte von moralischer Unsicherheit sichtbar und messbar zu machen. In einer ersten Studie konnten wir zeigen, dass es einen Unterschied darin gibt, ob sich die moralische Unsicherheit auf fehlende Informationen zurückführen lässt (etwa darüber, wie hilfreich eine Impfpflicht wäre) oder aber ob jemand unsicher ist, wie diese Informationen moralisch einzuordnen sind (etwa, ob es richtig wäre, den Schutz der Bevölkerung vor Krankheit dem Recht auf individuelle Freiheit hinten anzustellen).

In der aktuellen Studie wurden weitere Facetten von moralischer Unsicherheit untersucht. Dabei ging es uns insbesondere darum, in der Literatur diskutierte Facetten moralischer Unsicherheit empirisch zu prüfen und mithilfe eines psychologischen Fragebogens messbar zu machen. Wir gingen dabei von folgenden Facetten aus: Unsicherheit aufgrund fehlender Informationen, Unsicherheit aufgrund unklarer Konsequenzen, Unsicherheit über die Korrektheit der eigenen Meinung, Unsicherheit darüber, was die eigene Meinung zu einem Thema überhaupt ist und Ambivalenz bei der Beurteilung eines Themas (Makins, 2021; Petrocelli, Tormala, & Rucker, 2007).

Methode

Teilnehmende wurden zufällig einer von zwei Varianten zugeordnet. In der ersten Variante sollten Teilnehmende von einer Situation aus ihrem Alltag berichten, bei der sie sich unsicher sind, wie sie die Sache moralisch einschätzen. Es wurde gefragt, wie sie die Sache moralisch bewerten und wie sicher sie sich in dieser Bewertung sind. All jene, die hier keine absolute Sicherheit angaben, bekamen daraufhin eine Reihe an Aussagen zu lesen, die die oben genannten Aspekte moralischer Unsicherheit beschreiben. Teilnehmende sollten angeben, inwiefern diese Aussagen ihre Gefühle und Gedanken während des moralischen Abwägens der von ihnen beschriebenen Situation wiedergeben.

In der zweiten Variante wurde den Teilnehmenden eine moralische Fragestellung von den Forschern vorgegeben. Hierbei ging es um einen Schwangerschaftsabbruch nach vorgeburtlicher Diagnostik. Auch hier wurde denen, die nicht absolut sicher in ihrer Einschätzung waren, die Liste mit Aussagen zur Bewertung vorgelegt. Die erhobenen Daten wurden dann faktoranalytisch untersucht.

Ergebnisse

Viele Menschen waren sich unsicher, wie der Schwangerschaftsabbruch moralisch zu bewerten wäre. Die Unsicherheit in den selbst erstellten Fällen war jedoch nochmal größer. Faktoranalytisch konnten wir in beiden Varianten die Facetten moralischer Unsicherheit finden, die wir zuvor auch angenommen hatten. In der Gruppe der Teilnehmenden, die das Schwangerschaftsabbruchsszenario zu bewerten hatten, war der Aspekt der Unsicherheit über die eigene Haltung zu dem Thema besonders relevant, um die Gesamtunsicherheit zu erklären. Bei den selbstgenerierten Szenarien hingegen spielten Ambivalenz und Unsicherheit über die objektiv richtige moralische Beurteilung die wichtigste Rolle. Wir interpretieren dies so, dass unterschiedliche Themen zu unterschiedlichen Arten der Unsicherheit führen können. Dies zeigt uns, dass moralische Unsicherheit kein einheitliches, sondern ein facettenreiches psychologisches Phänomen ist. In weiterer Forschung ist zu untersuchen, welchen Unterschied es für die moralische Entscheidungsfindung macht, welche Art von Unsicherheit man bei dem jeweiligen Thema hat.

Literatur

MacAskill, W., Bykvist, K., & Ord, T. (Eds.). (2020). Moral Uncertainty. Oxford University Press.

Alsaad, A. K. (2021). Ethical judgment, subjective norms, and ethical consumption: The moderating role of moral certainty. Journal of Retailing and Consumer Services, 59, 102380.

Mata, A. (2019). Social metacognition in moral judgment: Decisional conflict promotes perspective taking. Journal of Personality and Social Psychology, 117(6), 1061–1082.

Vega, S., Mata, A., Ferreira, M. B., & Vaz, A. R. (2020). Metacognition in moral decisions: judgment extremity and feeling of rightness in moral intuitions. Thinking & Reasoning, 1–18.

Makins, N. (2021). Attitudinal ambivalence: Moral uncertainty for non-cognitivists. Australasian Journal of Philosophy, 1–15.

Petrocelli, J. V., Tormala, Z. L., & Rucker, D. D. (2007). Unpacking attitude certainty: Attitude clarity and attitude correctness. Journal of Personality and Social Psychology, 92(1), 30–41.

Steckbrief

Titel (deutsch): Moralische Fragen im Alltag: Entwicklung der Moral Uncertainty Scale
Titel (englisch): Morality in everyday life: Development of the Moral Uncertainty Scale
Erhebungszeitraum: 03/2022
Stichprobe (effektiv): 474
Stand der Informationen: 17.05.2022

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