Bedeutung vorgeburtlicher Testosteronprägung für Rauschtrinken und Internetsucht im Erwachsenenalter
Übermäßiger Internetkonsum kann ein krankhaftes Ausmaß erreichen und zu zahlreichen psychischen und körperlichen Folgeerkrankungen führen. Es gibt derzeit noch kein endgültiges Übereinkommen, welche Kriterien für die Diagnose Internetabhängigkeit anzuwenden sind. In der im Mai 2013 von der Amerikanischen Psychiatrischen Fachgesellschaft veröffentlichten fünften Auflage des Diagnostischen und Statistischen Handbuchs Psychischer Störungen (American Psychiatric Association, 2013) wurde die Internetspielerkrankung als Forschungsdiagnose in den Anhang aufgenommen. Andere Internetaktivitäten, die auch zu einem süchtigen Gebrauch führen können, wie etwa die Nutzung sozialer Netzwerke, wurden bis dato wenig untersucht. In einer Vorstudie konnten wir 2014 zeigen, dass die Internetspielabhängigkeit und der pathologische Gebrauch sozialer Netzwerke Merkmale von substanzgebundenen Süchten (Alkohol, Drogen) aufweisen (Bouna-Pyrrou et al. 2015).
Während der Schwangerschaft beeinflussen Geschlechtshormone die Entwicklung des Körpers, des Gehirns und die Ausbildung von Verhalten. Diese Effekte können Erkrankungen im Erwachsenenalter auslösen (z.B. Alkoholabhängigkeit (Kornhuber et al. 2011), Videospielabhängigkeit (Kornhuber et al. 2013), Suizide (Lenz et al. 2016).
Wir untersuchten nun detailliert, wie vorgeburtliches Testosteron die individuelle Nutzung von Internetspielen und sozialen Netzwerken, Rauschtrinken und Suizidalität beeinflusst. Das frühe Testosteron kann mithilfe des Pubertätsalters sowie des Fingerlängenverhältnisses abgeschätzt werden, da die Testosteronmenge im Mutterleib das Knorpelwachstum der Fingergelenke unterschiedlich beeinflusst. Ein kleineres 2D:4D und einer höheres Alter bei Pubertätsbeginn deuten dabei eine höhere vorgeburtliche Testosteronbelastung an. Zusätzlich untersuchten wir die Bedeutung verschiedener Verhaltensmerkmale wie Impulsivität und Fairness für das Internetnutzungsverhalten. Impulsives Verhalten, also eher schnelles ungeduldiges intuitives Handeln, gilt als ein Risikofaktor für Alkohol- und Drogensucht.
Ergebnisse
Von 14027 effektiv über das SoSci-Panel eingeladenen Mitgliedern schlossen 1135 Männer und 1181 Frauen den anonymen ca. 20-minütigen Online-Fragebogen ab. Im Durchschnitt waren die Teilnehmer 34 Jahre alt und gaben 12 besuchte Schuljahre an. Die Analyse der Studiendaten zeigt, dass höhere Testosteronbelastungen vor der Geburt das Risiko für die Ausbildung von süchtiger Nutzung sozialer Netzwerke und für Rauschtrinken im Erwachsenenalter erhöht. Die vorgeburtliche Testosteronmenge hat keinen Einfluss darauf, ob jemand Suizidgedanken oder Suizidversuche entwickelt.
Die Studienergebnisse sollen zu einem besseren Verständnis exzessiver Internetnutzung führen und einen Beitrag zur Vorhersage, Prävention und Therapie solcher Erkrankungen leisten.
Literatur
Bouna-Pyrrou P, Mühle C, Kornhuber J, Lenz B (2015) Internet gaming disorder, social network disorder and laterality: handedness relates to pathological use of social networks. J Neural Transm (Vienna) 122 (8):1187-1196. doi:10.1007/s00702-014-1361-5
Kornhuber J, Erhard G, Lenz B, Kraus T, Sperling W, Bayerlein K, Biermann T, Stoessel C (2011) Low digit ratio 2D:4D in alcohol dependent patients. PLOS ONE 6 (4):e19332. Online
Kornhuber J, Zenses EM, Lenz B, Stoessel C, Bouna-Pyrrou P, Rehbein F, Kliem S, Mößle T (2013) Low 2D:4D values are associated with video game addiction. PLOS ONE 8 (11):e79539. Online
Lenz B, Thiem D, Bouna-Pyrrou P, Mühle C, Stoessel C, Betz P, Kornhuber J (2016) Low digit ratio (2D:4D) in male suicide victims. J Neural Transm (Vienna) 123 (12):1499-1503. doi:10.1007/s00702-016-1608-4
Steckbrief
Titel (deutsch): | Bedeutung vorgeburtlicher Testosteronprägung für Rauschtrinken und Internetsucht im Erwachsenenalter |
Titel (englisch): | Internet gaming disorder, social network disorder and laterality |
Erhebungszeitraum: | 06/2016 |
Stichprobe (effektiv): | 2.316 |
Stand der Informationen: | 06.12.2016 |
Publikationen
Lenz, B., Bouna-Pyrrou1, P., Mühle, C. & Kornhuber, J. (2018). Low digit ratio (2D:4D) and late pubertal onset indicate prenatal hyperandrogenziation in alcohol binge drinking. Progress in Neuro-Psychopharmacology and Biological Psychiatry. doi:10.1016/j.pnpbp.2018.02.012
Bouna-Pyrrou, P., Aufleger, B., Braun, S., Gattnar, M., Kallmayer, S., Wagner, H., Kornhuber, J., Mühle, C. & Lenz, B. (2018). Cross-sectional and longitudinal evaluation of the social network use disorder and internet gaming disorder criteria. Frontiers in Psychiatry, 9, 692. doi:10.3389/fpsyt.2018.00692
Lenz, B., Röther, M., Bouna-Pyrrou, P., Mühle, C., Tektas, O.Y. & Kornhuber, J. (2019). The androgen model of suicide completion. Progress in Neurobiology, 172, 84-103. doi:10.1016/j.pneurobio.2018.06.003
Weitere Informationen
Arbeitsgruppe Psychoneuroendokrinologie